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Maigret und das tote Mädchen (FR 2022)


In Zeiten, in denen Sherlock Holmes facettenreich neu adaptiert wird und es mit Knives Out (US 2019) einerseits frische Interpretationen des Krimi-Genres gibt und andererseits konservative Glamour-Kostümschinken wie Mord im Orient Express (US 2017), kommt es nicht von ungefähr, dass auch das französische Kino der eigenen Kriminalliteratur neues Leben einhauchen möchte.
Doch während es sich bei Lupin (FR seit 2021) um eine Serie handelt, die einen sympathischen Dieb in den Mittelpunkt stellt und das Narrativ in die Gegenwart überführt, erinnert Maigret und das tote Mädchen (FR 2022) nicht nur dem Titel nach an einen TV-Spielfilm, der im Rahmen eines wöchentlichen Krimis werktags ausgestrahlt werden kann.

Die Handlung ist denkbar einfach und die Auflösung des Falls kommt aus heiterem Himmel und ist dennoch unspektakulär. Selbst wenn das Publikum mitraten wollte, wäre die Sachlage zu dünn, als dass man aus Überzeugung auf die Identität des Täters oder der Täterin kommen würde.

Maigret (Gérard Depardieu) ist ein in die Jahre gekommener Kriminalkommissar, der auf Grund seines Lebenswandels, inklusive Mord, Todschlag und mangelhafter Ernährung, mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat.
Eigentlich auf dem Weg in den Feierabend ist es das stereotype Klingeln des Telefons in letzter Sekunde, das die Handlung in Gang setzt.
Ein Mädchen ist tot aufgefunden worden. Nach anfänglichen Bemühungen, den Namen der jungen Frau herauszufinden, führt die Spur in die französische Filmindustrie und hierüber zu einer reichen Familie, in deren Kreisen sich dann auch alles aufklärt.
Die Handlung ist simpel gehalten, man mag sagen, sie sei billig, und wir müssen tief in der Kiste von Meta-Ebenen und Verbindungen zwischen Erzählung und Mise-en-scène graben, um etwas zu finden, was dem Film Komplexität und irgendeine Form von Prädikat geben könnte.

Hervorzuheben ist klar das Spiel von Hauptdarsteller Depardieu. Die Ruhe und Gelassenheit, mit der er von einer Spur zur nächsten gelangt und nach und nach die Puzzleteile zusammensetzt, lassen klar erkennen, dass es sich bei der Figur um einen erfahrenen Kriminalisten handelt. Er lässt sich nicht verwirren, nicht ablenken von den Finten und affektierten Aktionen und Reaktionen der potentiell verdächtigen Charaktere. Zugleich ist er einfühlsam und richtet nicht, wo es nicht zu richten gibt. Und so kommentiert er auch nur beiläufig die Sexeskarpaden zweier Figuren damit, dass sie nicht verboten wären, weder im juristischen noch im moralischen Sinne.
Maigret ist eine Figur, die zu sezieren und zu selektieren weiß, und sie ist es auch, die das Publikum bei der Stange und vielleicht davon abhält, den Saal zu verlassen oder das Programm zu wechseln.

Alles andere in und an dem Film ist geprägt von Beiläufigkeit.
Zwar scheint diese ein Kernelement des Films zu sein, insofern, als dass das titelgebende tote Mädchen eben kein ermordetes ist. Gewalt und Tod kann beiläufig geschehen, ein Unfall sein, und es kann in einer erkalteten Gesellschaft sein, dass ein Menschenleben zu etwas Beiläufigem verkommt, doch ist es gewollt, wenn dieser Missstand nicht nur angeprangert wird, sondern auf den ganzen Film übergreift?
Vom ersten Moment an sehen wir einen Etui-Film, ausstaffiert und abgelichtet bis ins letzte Detail. Da, wo es möglich ist, gibt es eine Überfülle an Tinkturen oder kleinen Fläschen oder Mobiliar oder Taschen oder Gläsern.
Der Film, der in den 1950er Jahren spielt, wirkt zeitlich schwer greifbar. Allein die Szenen, die eindeutig an frischer Luft gedreht wurden, lassen durch die Architektur die korrekte Zeit erahnen. Alle anderen Momente, die nicht verleugnen können, im Studio entstanden zu sein, verklären die Gegenwart und deuten auf eine Vergangenheit, angelegt irgendwo zwischen dem späten 19. Jahrhundert und den 1940er Jahren.
All die Gegenstände sind da und sprechen für sich selbst, doch interagieren die Figuren nicht mit ihnen. Die Dinge sind da, um da zu sein, ganz dem Etui-Denken entsprechend, doch durch die Fokusverschiebung auf das Haben, weg von Funktion und Bedeutung, verkommen die Objekte zur Beiläufigkeit.
In der im Film porträtierten Gesellschaft mag dies konsistent sein. Die Objekte, die zur Rolle oder Klasse gehören, und die Menschen, die fehl am Platz sind, doch muss der Film erkennen, dass er nach wie vor als Medium fungiert und nicht selbst in dieser Gesellschaft aufgeht.
Anfänglich ist zudem die Kameraarbeit unrund. Ruckartige Kamerafahrten, die in Nahaufnahmen nur noch ruckartiger wirken, schrecken eher ab als dass sie in den Film einführen. Zur gleichen Zeit befindet sich die Kamera zu weit vom sitzenden Arzt entfernt.
Nur noch ein kleines bisschen nach links, könnten wir denken, dann sieht man das Ende der Kulisse.

Der Film will seine Künstlichkeit offenbar nicht verraten, denn dafür ist er nicht künstlich genug, aber er schafft es auch nicht, die Filmwelt klar zu etablieren.

David Bordwell hat einmal geschrieben, dass der*die Zuschauer*in vorbereitet in einen Film ginge, um mitzuraten und die Geheimnisse des Films zu entschlüsseln.
Er bezog sich damit auf Film im Allgemeinen, doch was für den allgemeinen Film gilt, gilt für den Kriminalfilm im Besonderen.

Fazit: Maigret und das tote Mädchen verpasst auf spektakuläre Weise, das vorbereitete Publikum aufzufangen und mit in den Fall zu integrieren. Mit Ausnahme des Spiels von Depardieu wurde nichts an diesem Film mit Liebe inszeniert. Stattdessen gibt sich der Film als Kostümfilm und hofft vermutlich, im Fahrwasser der Branagh-Filme mitschwimmen zu können.
Gerne stelle ich mir vor, Maigret wäre im Setting so minimalistisch aufgebaut wie Lars von Triers Dogville (US 2003). Dies hätte all die Fläschen und und sonstigen Objekte obsolet gemacht und der perfiden Beiläufigkeit die Substanz gegeben, die sie verdient und wohl auch gebraucht hätte.

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