Systemsprenger (D 2019) beginnt unmittelbar.
Das Mädchen Benni, um dessen Geschichte sich der Film dreht, flucht nahezu unentwegt, schlägt um sich und wird selber geschlagen und beleidigt. Ihr Körper ist übersäht mit Hämatomen. Wo diese herkommen, wird nicht erklärt. Die Menschen, die Benni umgeben, wissen davon. Zumindest sind sie nicht erstaunt. Bennis Zustand muss schon länger bestehen und die „Erzieher“, wie Benni sie nennt, zunehmend überfordern.
Der Film beginnt somit nicht am Anfang und er wird auch nie dorthin gelangen. Selten war der Unterschied zwischen Plot und Story größer als in diesem Fall. Überall finden wir nur Erwähnungen und Hinweise. Über den ganzen Film hinweg werden wir versucht sein, mitzuentscheiden, was für Benni das Richtige ist. Wir werden Urteile fällen, selbige revidieren und neuerlich vor Gericht ziehen.
Die Exposition, die eigentlich dazu dienen soll, uns mit dem Stoff vertraut zu machen, wird zum Kraftakt. Wenn neue Figuren in den Film eingeführt werden, bekommen sie keine Informationen über Bennis Zustand und die Ursprünge –zumindest nicht auf der Leinwand. Abseits der Kamera haben die Figuren Akteneinsicht oder erklärende Briefe zur Hand, doch uns, dem Publikum wird der Einblick verwehrt. Beinahe beiläufig wird erwähnt, dass Benni bereits mehrfach im Krankenhaus in Behandlung war, dass sie in psychiatrischen Einrichtungen untersucht worden ist, dass sie in Pflegefamilien und Heimen war (und noch immer ist) und dass eine stationäre Behandlung in einer geschlossenen Anstalt ratsam wäre. Allein über die Aversion, im Gesicht berührt zu werden, wird deutlich gesprochen, über die Ursache hingegen erübrigt der Film kaum mehr als einen Halbsatz. Wenn wir etwas über Benni lernen, dann ausschließlich, wenn es im Bild geschieht oder das Mädchen darüber spricht.
Nicht einmal, dass der Titel des Films einen feststehenden Terminus darstellt, mit dem versucht wird, komplexe psychische und soziale Problematiken in Fällen wie dem der Hauptfigur zu beschreiben, erfährt im Film besondere Erwähnung. Einzig einmal, gegen Ende des Films, verwendet eine der Figuren den Begriff und dies zudem beiläufig.
Wie anders sollte der Film aber auch mit den Zuschauenden umgehen?
Systemsprenger ist kein in sich geschlossenes
Drama, in dem sich die Figuren auf eine innere oder äußere Reise begeben, an
deren Ende eine Erklärung oder gar eine Lösung des Problems steht.
Gleich dem Publikum verlieren sich die ohnehin halt- und hilflose Benni und die
sie umgebenden Figuren in den Wirren der Ausweglosigkeit und geraten an die
Grenzen des Ertragbaren.
Kurz vor Ende des Films verliert die Kamera sogar den Rahmen der Zuverlässigkeit. Für einen kurzen Moment, der arrangiert ist wie die vereinzelten kurzen Traumsequenzen, die den Film begleiten, müssen wir uns fragen, ob Benni vielleicht gar gestorben ist. Dies wäre sicher ein Ende, welches zu einem Drama passt, da es auf eine poetische Weise die vielleicht einzige wahre Erlösung für das Mädchen zum Ausdruck bringt.
Allerdings verweigert der Film dieser Form von Poesie und so sehen wir, dass Benni sehr wohl lebt und sie und die übrigen Figuren sich nach wie vor inmitten des Konfliktes befinden.
Schließlich lässt uns Systemsprenger erschlagen und ratlos zurück. Mit einem technischen Effekt zerschlägt Benni am Ende sogar den Bildschirm oder die Kameralinse hinter sich und sprengt damit das System Film. Die Problematik ist einfach zu komplex, als dass ein Film die lösen könnte.
Die Regisseurin Nora Fingscheidt hat mit Systemsprenger einen Film geschaffen, der bei aller artifizieller Dynamik selten den Boden unter den Füßen verliert. Die groß angekündigte Erlebnispädagogik mit dem Anti-Aggressions-Trainer Micha wird zu einem Schritt von vielen, Figuren kommen und gehen und auch die Personen, die bleiben, müssen stets damit kämpfen, ihre Funktion nicht zu verlieren.
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