Direkt zum Hauptbereich

Schrödingers Flugzeug

Als Erwin Schrödinger 1935 von einer Katze in einer Stahlkammer schrieb (siehe Literaturliste), ahnte er wahrscheinlich nicht, welche Wellen jenes Gedankenexperiment schlagen sollte und dass es abseits der eigentlichen Disziplin, der Quantenmechanik, auch in filmwissenschaftlicher Hinsicht von Interesse sein könnte.

Im Folgenden möchte ich die paradoxe Idee von Schrödinger zum Anlass nehmen, die räumlichen bzw. örtlichen Gegebenheiten im Film Airport (US 1970, R: George Seaton) anhand der Ausführungen Lars Wilhelmers zur „sozial- und kulturwissenschaftlichen Raumtheorie“ zu erläutern. Dabei möchte ich nicht nur darauf eingehen, auf welche Arten Wilhelmer Raum/Ort nutzt, sondern dass diese Nutzung einen besonderen Einfluss auf die Zuschauenden hat. Am Ende soll gezeigt werden, dass die eigentliche Katastrophe bzw. das Unglück, welches dazu führt, dass das Flugzeug abzustürzen droht, nicht der Höhepunkt der Atmosphäre des Films bildet, sondern die Suspense-Momente im Vorfeld, die die Zuschauenden stets bangen lassen.

Der Katastrophenfilm Airport von George Seaton erzählt von einem Linienflug, auf dem ein Unglück geschieht. Dieses Unglück besteht darin, dass sich ein Passagier auf der Flugzeugtoilette mittels einer Bombe, die er in einem Aktenkoffer versteckt hat, selbst tötet. Bei einer Länge von 136 Minuten ist es erwähnenswert, dass sich die Explosion erst nach 103 Minuten ereignet.

Die ganze Filmzeit davor befasst sich der Regisseur damit, Figuren vorzustellen, kleinere und größere Geschichten zu erzählen und den beiden Plätzen, an denen die Handlung größtenteils stattfindet, Raum zu verschaffen.
Wenn ich die Begriffe Ort und Raum gegenüberstelle, dann beziehe ich mich damit auf die Ausführungen Lars Wilhelmers, der, (u.a.) Martina Löw analysierend, Raum für die Anwendung auf Literatur greifbar zu machen versucht. Als Grundlage nimmt Wilhelmer die von Löw angestrebte Herangehensweise über einen „relationalen Raumbegriff“ (Wilhelmer, S. 20) und die damit einhergehende „Wechselwirkung von Handeln und Strukturen“ (Wilhelmer, S. 26).

Ich möchte nun einige Aspekte aus dem Text von Wilhelmer heranziehen und auf Airport anwenden. Bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die Zeit bis zu dem Unglück und die Wirkung auf das Publikum, welches der Handlung dank der auktorialen Erzählweise unmittelbar folgen kann und somit ganz nah am Geschehen ist.

Wilhelmer schreibt, dass die Beziehung zwischen Ort und Raum auf drei Arten Besonderheiten aufweisen kann.
„Erstens können verschiedene Räume an ein und demselben Ort entstehen.“ (Wilhelmer, S. 31)
„Zweitens kann sich ein Raum über verschiedene Orte erstrecken.“ (Wilhelmer, S. 31)
„Drittens können sich Räume und Orte ineinander verschachteln.“ (Wilhelmer, S. 32)
Im Film kommt es zu einer Kombination aus allen diesen Aspekten.

Um die Atmosphäre eindringlich zu gestalten und den Zuschauenden so die Möglichkeit zu geben, sich mit den Figuren auf der Leinwand zu identifizieren, seziert Seaton den Ort Flughafen und zerlegt ihn in seine Bestandteile. So ist die Figur Bakersfield meist in einem Büro im Hauptgebäude zu sehen, von dem aus sie vieles koordiniert (Airport, bspw. 0h32'), während gleichzeitig Pilot Demerest und Stewardess Meighen im Flugzeug am Rollfeld ihre Beziehung besprechen (Airport, 0h49'). Die Komplexität der räumlichen Struktur wird bereits hier deutlich. Bakersfields Büro weist neben einem Schreibtisch auch eine gemütlich, beinah salonhafte Sofa-Ecke auf, die im direkten Kontrast steht zur operativen Schaltzentrale mit mehreren Telefonen und eine vermeintliche Möglichkeit zur Privatspähre zu bieten scheint. Demerest und Meighen hingegen nutzen im Vorfeld des Fluges die Transportmaschine für rein private Zwecke und auch im weiteren Verlauf des Films kommt es zu Momenten, in denen beide ihre berufliche Anstellung außer Acht lassen, um den öffentlichen Raum zu einem privaten Raum zu machen.

Durch die Parallelmontage kann ferner der Plot ausgebaut und so die Brücke zur Handlung geschlagen werden. Während Herr Guerrero letzte Vorbereitungen trifft und sich auf seinen finalen Flug begibt, zeigt der Regisseur auch Frau Guerrero, die von dem Vorhaben ihres Mannes nicht weiß und sich in großer Sorge um ihn befindet. Seaton verbindet die beiden Orte der Frau und des Mannes und zeigt so die Tragödie dieser Ehe. Der dritte Aspekt, den Wilhelmer anspricht, liegt in der Arbeitsweise eines Flughafens. Am deutlichsten wird dies am Gate. Der Flieger steht bereit und das sogenannte Boarding hat begonnen.
In diesem Zeitraum ist die Schleuse zwischen Flughafen und Flugzeug durchlässig. Für Herrn Guerrero, der ein gültiges Flugticket besitzt, ist die Schleuse somit passierbar (Airport, 1h00'). In dem Moment jedoch, in dem das Boarding abgeschlossen und das Flugzeug im Begriff ist, den Flug zu beginnen, wird das Gate zu einer unüberbrückbaren Hürde. Nur um Minuten verspätet sich Frau Guerrero und kann so diese Hürde nicht mehr nehmen. Allein durch die Panorama-Fenster kann sie dem Flieger hinterherschauen (Airport, 1h06'-08'). Das Gate ist in diesem Fall Passage, Wartehalle und Endstation in einem. Diese detaillierten Beschreibungen der Figuren und die komplexen Verschachtelungen von Raum und Ort einerseits, aber auch Ort und Handlung andererseits führen dazu, dass die Zuschauenden unmittelbar am Geschehen sind. Wilhelmer bezeichnet Transit-Orte dieser Art als „paradox“ (Wilhelmer, S. 37), da sie zwar dafür da sind, um von einem Punkt zu einem anderen Punkt zu gelangen, aber gleichsam auch Orte des Verweilens darstellen.
Als PassagierIn in einem Flugzeug möchte der Mensch an ein geografisch weit entferntes Ziel gelangen. Während des Flugs ist er jedoch stationär an die Maschine gebunden, gleichsam aber auch bereits am Ziel, da eine Reise ohne das Flugzeug nicht möglich wäre.
Sich auf Michel de Certeau berufend, stellt Wilhelmer zudem Ort und Nicht-Ort einander gegenüber (Wilhelmer, S. 40ff). De Certeau sieht in Nicht-Orten solche Plätze, die nicht um ihrer Funktion Willen identifiziert werden. Als Beispiel wird das Theater genannt. Als Institution für Aufführungen ist es ein Ort, als Punkt einer Wegbeschreibung ein Nicht-Ort. 

Durch die Erzählweise wird in Airport das Flugzeug schon vor der Explosion gleichzeitig zu einem Transportmittel und einem potentiellen Grab. Für die Zuschauenden ist es zudem gleichzeitig der Ort, an dem sich viele Geschichten ereignen, und ein Ort, an dem dies nicht mehr von Bedeutung ist, da durch die drohende Katastrophe diese Geschichten abrupt enden können. Und genau an dieser Stelle können wir zurückkommen zu den Überlegungen Erwin Schrödingers. Ähnlich wie im Falle der Katze, die gleichsam tot und lebendig ist, sind auch die Figuren im Film gleichsam gefährdet und in Sicherheit. Durch die Vermischung der auktorialen Erzählweise, die die Zuschauenden mit den nötigen Informationen versorgt, und mit der vielseitigen Darstellung des Flughafens und des Flugzeugs, wird dem Publikum ein Szenario präsentiert, welches sich in der Schwebe befindet. Herr Guerrero, der wiederkehrend mit Problemsituationen (Geldknappheit bei Versicherungsabschluss, Check-In, etc.) konfrontiert wird, könnte jedes Mal aufgehalten werden, wenn die entsprechenden Instanzen an den entsprechenden Punkten im Raum anders reagierten.
Somit ist jede Problemsituation wie der Gedanke an das instabile Atom, dessen Kern in einem berechneten Zeitraum zerfallen könnte oder eben auch nicht.

 

 

Literatur:

Airport, US 1970 R: George Seaton

Wilhelmer, Lars, „Sozial- und kulturwissenschaftliche Raumtheorie“ in Trans-Orte in der Literatur: Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen: Bielefeld Transcript 2015, S. 19-58 

Wineland, David J., „Überlagerungen, Verschränkungen und Schrödingers Katze (Nobel-Aufsatz)“ in Angewandte Chemie: Weinheim Wiley-VCH 2013

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

The Fantastic Four: First Steps (US 2025)

Die Phasen Eins bis Drei des MCU bilden die Infinity-Saga und erfreuen sich im Großen und Ganzen höchster Beliebtheit. Dagegen hat auch niemand etwas einzusetzen, immerhin geht es um verschiedene Figuren, die einander kennen bzw. kennenlernen, es geht um Artefakte, die später als die Infinity-Steine bekannt werden, und einen ultimativen Bösewicht, den es im großen Finale zu besiegen gilt -kurz gesagt, es ist eine runde Sache. Diesem Meilenstein des Popcorn-Kinos schließen sich die Phasen Vier bis Sechs, die sogenannte Multiverse-Saga, an und Fans sind zurecht irritiert bis erbost über die Zeit, die hier verschwendet wurde, denn es sollte doch tatsächlich 14 Filme dauern, bis dieses Multiverse endlich schlagend wird. Und gerade in dem Moment, da THE FANTASTIC FOUR: FIRST STEPS in den Kinos erscheint, verkündet Marvel-CEO Kevin Feige ein Reboot des MCU. Dies klingt kurios und wird in Zukunft sicherlich noch für viel Gesprächsstoff sorgen. Derweil zurück zum Multiverse, wie es bis jetzt b...

Joker: Folie À Deux (US 2024)

Der folgende Text geht analytisch auf den Film Joker: Folie À Deux (US 2024) ein und enthält Spoiler. Ich bin überzeugt davon, dass man sich den Film auch nach der Lektüre noch anschauen kann, ohne durch die bekannten Details gelangweilt zu sein, aber ich nehme in diesem Text keine Rücksicht auf jene, die den Film noch nicht gesehen haben. WORUM GEHT ES? Um eines vorwegzunehmen, sei festgestellt, dass Joker: Folie À Deux kein “Joker 2” ist. Im Gegensatz zu anderen Filmreihen wird in  Joker: Folie À Deux kein neues Abenteuer präsentiert, sondern eine direkte Fortsetzung zum ersten Teil geliefert. Der neue Film von Regisseur Todd Phillips setzt dort an, wo der andere Film aufhört und erzählt die bestehende Geschichte weiter. Er bezieht sich ausführlich auf den ersten Teil, greift Elemente auf und lässt einzelne Ereignisse in einem neuen Licht erscheinen. Ganz konkret handelt  Joker: Folie À Deux von der Gerichtsverhandlung gegen Arthur Fleck (Joaquin Phoenix). Jener sitzt nac...

Tatsächlich.... Liebe (GB 2003) - Ein Lieblingsfilm ehrlich geschaut.

Vor einundzwanzig Jahren kam ein Film in die Kinos, der sehr liebevoll inszeniert wurde und von zahlreichen schrulligen Figuren erzählt. Er avancierte schon nach kurzer Zeit zum modernen Klassiker, hat Nachahmer motiviert und ist bei vielen Menschen fester Bestandteil des alljährlichen Adventprogramms. Der starbesetzte Episodenfilm Tatsächlich… Liebe  stammt vom Drehbuchautor Richard Curtis, der auch schon die Drehbücher zu Vier Hochzeiten und ein Todesfall  (1994), ” (1999) und zwei Bridget Jones -Filmen (2001, 2004) verfasste und nun das erste Mal auch Regie führte. Der Film erzählt in einzelnen, teilweise lose miteinander verbundenen Episoden Kurzgeschichten rund um das Thema Liebe und beleuchtet dabei sowohl die schönen Seiten des Frisch-Verliebt-Seins, als auch die Prüfungen nach vielen Jahren der Beziehung. Selbstverständlich ist auch Hugh Grant mit von der Partie, denn es scheint so zu sein, dass, während Scorsese wahlweise mit DeNiro oder DiCaprio dreht, und Tarantino ...