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Ein Visum im Kampf gegen die Nazis

Wer sich Casablanca[1] anschaut, kommt nicht umhin, die äußerst kurze Exposition[2] zu betrachten, die sich unmittelbar an das Intro des Films anschließt.

Im Allgemeinen hat eine Exposition den Sinn, die Zuschauenden in die Handlung und die darin agierenden Figuren einzuführen. Im Falle von Casablanca wird auf die Einführung von Figuren zunächst verzichtet. Erst nach und nach werden die Zuschauenden die Charaktere zu Gesicht bekommen. In diesem Film beschränkt sich die Exposition darauf, die Szenerie zu präsentieren und eine zeitliche Einordnung vorzunehmen. Dabei ist „beschränken“ nicht negativ konnotiert. Im Gegenteil liegt in dieser Art der Exposition vielmehr eine besondere Fokussierung auf das Elementare des Films.

Als Casablanca am 23. Januar 1943 in die Kinos kommt, sind die USA seit mehr als einem Jahr am Kriegsgeschehen beteiligt und bereits in Afrika gelandet.[3] Das „Office of War Information“(OWI)[4] hat großen Einfluss auf die Filmproduktionen in Hollywood und auch die Filmstudios sind daran interessiert, den Zeitgeist profitabel für sich zu nutzen.

Casablanca ist neben dem Melodram, jener berühmten Dreiecksgeschichte um die Figuren Ilsa Lund, Victor Laszlo und Richard „Rick“ Blaine, berühmt für die Suche nach zwei Transit-Visa, welche die ungehinderte Abreise in die USA garantieren können. Und genau deshalb ist die Exposition so immens wichtig.

In der Art eines Wochenschau-Beitrags wird berichtet, dass im Zuge des zweiten Weltkriegs Menschen gezwungen sind, aus dem, von der Deutschen Wehrmacht besetzten Teil Frankreichs zu fliehen und bei Marseilles über das Mittelmeer nach Afrika überzusetzen. Die Fluchtroute führt weiter über Oran nach Casablanca, welches sich im unbesetzten französischen Teil Marokkos befindet. Von dort aus bedarf es eines Visums, um nach Lissabon und schließlich in die USA weiterzureisen.

Der Sprecher beschreibt den Aufenthalt in Casablanca wie folgt:

Here the fortunate ones through money or influence or luck might obtain exit visas and scurry to Lisbon, and from Lisbon to the New World. But the others wait in Casablanca, and wait...and wait...and wait.[5]

Es werden in diesem Abschnitt des Films keine Personen namentlich erwähnt. Die flüchtenden Menschen werden als Gruppe gesehen, die ein gemeinsames Ziel haben. Ihr Erfolg liegt ungewiss in der Schwebe und ist somit immer nur flüchtig am Horizont zu erahnen.

In seiner Abhandlung über das Verhältnis von Raum und Ort[6] unterteilt Lars Wilhelmer mehrere Arten von Orten. Die besondere Form des Transit-Ortes[7] bezeichnet er dabei, ebenso wie ich eben, als „flüchtig“, nicht zuletzt, weil er Transit an sich als unstet ansieht und als Prozess einer Bewegung von einem Punkt zum anderen. Zudem bezieht er sich explizit auf „Texte aus den 1930er und 40er Jahren“[8], die sich mit den Flüchtlingsbewegungen der damaligen Zeit auseinandersetzen. Diese Form von Ort ist auf die flüchtenden Menschen, die in Casablanca warten (und warten und warten), anwendbar. Sie befinden sich auf einer Reise, weg von einem Regime, welches sie verfolgt, hin zu einem Leben in Freiheit.

Die USA stehen für einen Staat, in welchem jedem Menschen die Möglichkeit geboten wird, sich frei zu entfalten, und damit in krassem Kontrast zu den Gegebenheiten im durch das Deutsche Reich besetzten Europa. Die Exposition des Films, welche das Moment der Flüchtigkeit auch grafisch umsetzt, ist dabei eng mit dem US-Amerikanischen Ideal verbunden.

Bis zu dem Moment, da die Kamera, man mag sagen, in Casablanca ankommt, arbeitet sie sich vor, vom Großen und Allgemeinen, hin zum einzelnen detaillierten Raum. Das Visuelle dient dabei der Unterstützung dessen, was der Sprecher in dokumentarischer Manier kommuniziert. Der anfänglich gezeigte rotierende Globus informiert darüber, dass sich das Folgende mit dem Weltgeschehen befassen wird. Die behandelte Flüchtlingsroute („refugee trail“) wird von echten Wochenschau-Aufnahmen begleitet und wirkt so noch eindringlicher. Die so erstellte Montage bekommt dabei einen ebenso flüchtigen Charakter. Die beiden Bildebenen liegen wie Folien über einander und befinden sich somit gleichzeitig auf der Leinwand. Ihr Ziel, das Bild ganz für sich einzunehmen, können sie dadurch nicht erreichen, wodurch sie sich, wie die fliehenden Menschen, in einer Art Schwebe befinden. Michael Curtiz, der Regisseur von Casablanca, fordert an dieser Stelle die Zuschauenden und setzt eine Grundstimmung, die durch den ganzen Film hindurch mitschwingt und am Ende sogar Oberwasser erfährt, wenn es darum geht, dass Rick, nachdem er Major Strasser erschossen hat, Casablanca verlassen und damit selber fliehen muss.[9]

Jeder Mensch kann zu einem Flüchtling werden, weshalb es umso wichtiger ist, dass die Truppen stets gestärkt werden, um siegreich gegen die Nationalsozialisten kämpfen zu können.

Hierzu heißt es in Hollywood War Films[10]:

OWI believed this could be accomplished if propaganda messages were ’casually and naturally introduced into the ordinary dialogue, business and scenes…[11]

Zudem schreibt David Bordwell über die Rolle des Zuschauers/der Zuschauerin:

The spectator comes to a classical film very well prepared. […] The spectator knows the most likely stylistic figures and functions. He or she has internalized the scenic norm of exposition, development of old causal line, and so forth.[12]

Dementsprechend bricht Curtiz mit der Sehgewohnheit der Zuschauenden. Das Publikum ist vorbereitet, wenn es den Kinosaal betritt. Im Vorfeld war der Film beworben worden und alle sind in der Erwartung, nun eine Liebesgeschichte um Humphrey Bogart und Ingrid Bergman zu sehen. Zudem geht zu dieser Zeit jeder Filmvorführung eine Wochenschau voraus, in der selbstverständlich auch über die Geschehnisse in Europa und Nordafrika berichtet wird. Curtiz weiß offensichtlich um die Verhaltensmuster der Zuschauenden und nutzt ihre Aufmerksamkeit und den Willen, etwas zu erfahren, dazu, die politisch-propagandistische Botschaft zu übermitteln.

Durch die Exposition werden die Zuschauenden trotz aller eskapistischer Elemente (Romanze, Humor, exotische Schauplätze), daran erinnert, dass sie sich in einer sehr komfortablen Situation befinden und dass ein Großteil der Welt diesen Luxus entbehren muss.

Ziel ist es somit, die Zuschauenden zu beeinflussen und sie dazu zu bringen, die US-Amerikanische Armee in vielfältiger Art und Weise zu unterstützen, sei es, dass sich junge Männer freiwillig für den Kriegseinsatz melden, sei es, dass die BürgerInnen Kriegsanleihen erwerben und so dem Militär helfen. An die indirekte Aufforderung, sich der eigenen patriotischen Pflicht bewusst zu werden, wird den ganzen Film hindurch wiederholt erinnert. Beispielsweise werden in der Szene, in der Rick an die Zeit in Paris zurückdenkt, noch einmal Wochenschau-Bilder herangezogen, um den Einmarsch von Wehrmachtstruppen in Paris zu verdeutlichen[13], und in dem Moment, in dem Laszlo das erste Mal auf Major Strasser trifft, diskutieren beide die Herkunft Laszlos.[14] Während der Widerstandskämpfer behauptet, Tschechoslowake zu sein, stellt der Offizier fest, dass solch ein Staat nicht mehr existiere und Laszlo stattdessen Bürger des Großdeutschen Reichs sei.

Der Globus, der zu Beginn des Films gezeigt wurde, wird hier sprachlich aufgegriffen und verweist auf die Zerbrechlichkeit (und damit Flüchtigkeit) einer Nation und die damit verbundene Zerbrechlichkeit einer nationalen Identität.

Und dann ist da noch der Transit als Begriff. Die „Letters of Transit“ werden siebzehn Mal im Film erwähnt. Bei einer Laufzeit von 102 Minuten bedeutet dies im Schnitt eine Erwähnung alle sechs Minuten. Durch die ständige Erwähnung werden aus den Visa, die eigentlich kaum mehr als handlungstreibende Objekte (plot device) sind, elementare Bestandteile der Kommunikation mit dem Publikum.

 

Quellenverzeichnis


Casablanca, 1943, R: Michael Curtiz

Bordwell, David, Narration in the Fiction Film, University of Wisconsin Press 1985

Wilhelmer, Lars, "Sozial- und kulturwissenschaftliche Raumtheorie", in: ders.: Transit-Orte in der Literatur: Eisenbahn - Hotel - Hafen – Flughafen, Bielefeld: Transcript 2015, S. 19-58

Wilt, David E., Shull, Michael S., Hollywood War Films. 1937-1945, US McFarland & Company 1996

 

[1] Casablanca, 1943, R: Michael Curtiz

[2] 0h01‘-0h02‘

[3] Beginn Gegenoffensive der West-Alliierten Streitkräfte: 23.10.1942; Schlacht bei El Alamein: 04.11.1942

[4] US-Amerikanische Bundesbehörde, die während des zweiten Weltkrieges existierte und sich mit der Verbreitung von Kriegsinformationen und Propaganda beschäftigte.

[5] 0h02‘

[6] Wilhelmer, Lars, "Sozial- und kulturwissenschaftliche Raumtheorie", in: ders.: Transit-Orte in der Literatur: Eisenbahn - Hotel - Hafen – Flughafen, Bielefeld: Transcript 2015, S. 19-58

[7] Wilhelmer, S. 39

[8] Wilhelmer, S. 39

[9] 1h36’-1h38’

[10] Wilt, David E., Shull, Michael S., Hollywood War Films. 1937-1945, US McFarland & Company 1996

[11] Wilt/Shull, S. 139

[12] Bordwell, David, Narration in the Fiction Film, University of Wisconsin Press 1985, S. 164

[13] 0h39‘

[14] 0h27‘

 

 

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