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Prisoners (US 2013)

Manche Dinge brauchen Zeit, um auserzählt zu werden. Es benötigt Zeit, um den Dingen gerecht zu werden.

Denis Villeneuves Prisoners (US 2013) nimmt sich satte zweieinhalb Stunden, um die Geschichte rund um eine Kindesentführung zu erzählen.
Dabei teilt der Regisseur die Zeit in der Form ein, dass uns die sechs Tage, die die Handlung umreißt, wie Echtzeit vorkommen.

Villeneuve und der Kameramann Roger Deakins, die auch bei Blade Runner 2049 (US 2017) und Sicario (US 2015) zusammenarbeiteten, gehen ganz auf die jeweilige Situation ein und erzählen sie so weit es geht aus. Im Gegensatz zu anderen Filmen, bei denen wir das Gefühl haben, Film und Zeit verliefen entgegengesetzt zu einander, weil der Stoff nicht mehr Zeit hergibt oder weil durch das Produktionsbudget Grenzen gesetzt sind, wirkt es hier so als arbeiteten die beiden Filmemacher mit der Zeit. Jede zusätzliche Minute unterfüttert das Geschehen.

Wir können an dieser Stelle überlegen, ob Prisoners nicht die ideale Form für die Umsetzung eines Stoffes dieser Art darstellt.

Sicherlich sind auch andere Filme, die mit dem Thema der Kindesentführung spielen, nicht als schlecht von der Hand zu weisen. Denken wir an Kopfgeld (US 1996). Dieser Film ist mit 121 Minuten Laufzeit 32 Minuten kürzer als Prisoners. Beide Filme gehen von der gleichen Prämisse aus. Ein Kind wird entführt und in der Folge werden die Anstrengungen der Familie gezeigt, das Kind zu finden und zu retten. Die unterschiedlichen Herangehensweisen der Väter und Mütter finden in beiden Filmen besondere Erwähnung und ebenso ähneln sich die Filme in ihrem jeweiligen Ausgang.
Im Gegensatz zu Prisoners ist Kopfgeld allerdings actionlastig. In schnellen Einstellungen und in einem rasanten Tempo treibt der Film die Handlung vor sich her. Wir, das Publikum, werden von diesem Druck ergriffen und regelrecht mitgerissen. Das Adrenalin pumpt durch unsere Körper und wir werden eins mit diesem Rennen gegen die Verbrecher und gegen die Zeit.

Prisoners ist da einerseits identisch, andererseits genau das Gegenteil.
Während Kopfgeld progressiv auf ein Ende zu hastet, tritt Prisoners auf der Stelle, geht eher einen Schritt vor und zwei zurück.

Die Figuren in Prisoners sind haltlos, ebenso die Situation und schließlich auch wir.
Und mit der Haltlosigkeit kommt der freie Fall. Je länger der Film dauert, desto bewusster werden wir uns, dass er selbst bei einem glücklichen Ausgang trostlos enden wird.

Villeneuve und Deakins beschreiben eine Erfahrung, die niemand machen möchte, da wir wissen, dass sie, egal wie sie ausgeht, nicht ungeschehen gemacht werden kann und sie auf die eine oder andere Art immer präsent bleiben wird.

Der Film ist somit nicht nur die Erzählung einer Kindesentführung, sondern auch die Diskussion zweier im Film sehr präsenter Begriffe.
Zum einen ist dies der Filmtitel selbst, der sich nicht nur auf effektiv eingesperrte Menschen bezieht.

In seinem Wahn, des Entführers habhaft zu werden, stürzt der Vater, eindrücklich gespielt von Hugh Jackman, in eine Spirale der Gewalt, überschreitet er nach und nach unwiederbringliche Grenzen. Er wird zu einem Gefangenen seiner selbst und der Situation, in die er sich manövriert hat.Ihm gegenüber steht eine andere Figur, die aus Gründen des Spoilers nicht näher benannt werden soll. Auch sie befindet sich in einem Zustand innerer Gefangenschaft.

In seinem Buch The Narration in the Fiction Film [1] beschreibt Autor David Bordwell eine vermeintliche Offensichtlichkeit, die aber sehr von Bedeutung ist.
Er schreibt „The spectator comes to the film already tuned, prepared to focus.“ (S. 34)
Dieser spectator sind wir, das Publikum. Wir wissen, auf was wir uns einlassen. Entweder, weil wir uns im Vorfeld über den Film erkundigt haben (Texte, Trailer, etc.), oder weil Prisoners nicht der erste Film ist, den wir uns anschauen.

Ausserdem konstatiert Bordwell, “the film presents cues, patterns, and gaps that shape the viewer’s application of schemata and the testing of hypotheses.” (S. 33)

Gute Filme, und zu diesen möchte ich Prisoners auf jeden Fall zählen, führen und fordern uns, und so sind wir stets bestrebt, Filme zu dekodieren, um sie zu verstehen und Vergnügen an ihnen zu finden.
Aus diesem Grund erkennen wir die Vielschichtigkeit des Titels, verstehen die Figuren, auch wenn wir ihre Ansichten oder Handlungen nicht gutheißen, und sehen so auch das Gefangen Sein der Mutter, die sich in eine Art Katatonie und Betäubung flüchtet.

Was wir darüber hinaus auch erkennen, ist die Doppeldeutigkeit der Jahreszeit.
In Prisoners herrscht der herbstlichste aller Herbste. Alles in und an diesem Film ist braun.
Das Laub der Blätter ist braun, die Häuser sind braun, die Kleidung ist braun und nicht zuletzt ist auch das Colour Grading gänzlich in Brauntönen gehalten.

Visuell ist dieser Film ein einziger Herbst und Herbst bedeutet in amerikanischem Englisch Fall.

Die Vergänglichkeit, die mit dieser Jahreszeit einhergeht, wird symbolisch aufgeladen und kommentiert die Abwärtsspiralen der Figuren, die Gewalt, das Wegschauen, und auch das Misstrauen und die Abkehr von Recht und Ordnung.

Und genau an dieser Stelle können wir den Schluss zum Beginn des Textes ziehen und an das Verhältnis des Films zur Zeit anknüpfen.
So wie Trockenheit das Herbstlaub, so zersetzt uns der Film, macht uns der Film mürbe. Die einzelnen Tage des Films, in denen wir im Gegensatz zu Kopfgeld nie sicher sein können zu wissen, wer das Kind entführt hat, werden zu Zerreißproben und ähnlich der betäubten Mutter, können wir nur ohnmächtig zuschauen, wie alles zerfällt und nichts mehr so sein wird, wie es einmal war.

 

[1]  Bordwell, David, „Narration in the Fiction Film“, Madison The University of Wisconsin Press 1985

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