Von Lastenfahrrädern und fliegenden Autos

Neulich las ich in einer Kommentarspalte, die zu einem Beitrag über Retrofuturismus gehörte, den Satz “Knapp vorbei, statt fliegende Autos haben wir Lasten Fahrrad”.

Lassen wir die sprachlichen Mängel und das potentielle Grünen-Bashing einmal beiseite, findet sich hier dennoch ein interessanter Gedanke.

Als erster Science-Fiction-Film aller Zeiten dürfte wohl “Le Voyage dans la Lune”, “Die Reise zum Mond” von Georges Méliès gelten. Als diese fantasievolle Adaption der Stoffe von Jules Verne H. G. Wells im Jahr 1902 über die noch jungen Leinwände flackerte, war an die Weltraumforschung abseits der Astronomie noch nicht zu denken.


Dennoch gibt es in dem knapp 13 Minuten langen Stummfilm eine Rakete und einen sagenhaften Flug zum titelgebenden Erdtrabanten.

Die sich ereignenden Abenteuer sind dabei stark von Fantasiewesen und allerhand Illusionen geprägt.

1902 hat es, wer hätte es gedacht, noch keine Spaceshuttles und ähnliche Raumschiffe gegeben. Der Weltraum war nicht nur in Sachen Distanz vom Erdboden in weiter Ferne, auch die technologische Entwicklung lag noch die sprichwörtlichen Lichtjahre zurück.

Seitdem hat sich viel getan.
Heutzutage sind Reisen ins Weltall und auch zum Mond möglich und die Raumstationen MIR und ISS beweisen, dass es auch möglich ist, sich als Mensch über mehrere Monate hinweg im luftleeren Raum aufzuhalten, während die benötigte Infrastruktur sogar Jahrzehnte dort bleiben kann.


Wenn wir die fantasievollen Elemente aus Méliès’ Film einmal beiseite lassen, können wir durchaus behaupten, dass die Realität der Science Fiction in diesem Fall ordentlich den Rang abgelaufen hat.

Aus dem Zukunftsnarrativ von einst ist ein Vertreter dessen geworden, was weitläufig als Retrofuturismus bekannt ist.


Doch, während die “Reise zum Mond” vielleicht der erste Science-Fiction-Film ist, so ist er bei weitem nicht der letzte.

Mit den Jahren sollte das Medium Film eine Vielzahl von Science-Fiction-Konzepten hervorbringen, die sich mal mehr mal weniger an tatsächlichen technischen Gesetzmäßigkeiten orientieren und das Publikum entweder eskapistisch in fremde Welten entführen, oder aber sich eng mit den Möglichkeiten technischen Fortschritts und den Auswirkungen auf das Hier und Jetzt auseinandersetzen.


Fliegende Autos stehen dabei in erster Linie für hochtechnologisierten Individualverkehr.
In der Filmgeschichte tauchen Fortbewegung und Fliegen seit jeher in Kombination auf.
Bereits in “Metroppolis” (1927) gibt es Flugzeuge, die zwischen den Hochhäusern umherfliegen. In “Star Wars” (1977) können diverse Fahrzeuge zumindest schweben, wobei die Speeder Bikes der Storm Trooper sogar an Motorräder erinnern.
Mit den Hover Boards aus “Zurück in die Zukunft 2” (1989) erhalten sogar Jugendliche ihr eigenes Sci-Fi-Erlebnis und in “Blade Runner” (1982) und “Das fünfte Element” (1997) gibt es sie endlich in Reinkultur auf der Erde, die fliegenden Autos, ausgestattet mit allerhand technischen Spielereien.

Was davon hat sich seither bewahrheitet und was bleibt (bis auf weiteres) Fiktion?


Fliegen können Autos heutzutage nicht.
Aber technologisch weit fortgeschritten sind sie allemal. Jedes Fahrzeug hat dieser Tage einen Bordcomputer, der die unterschiedlichsten Funktionen übernimmt.
Es gibt facettenreiche Unterhaltungselektronik, ABS, ESP, Rückfahr- und Einparkhilfen, diverse Kameras und Scanner, Überwachungsmodule und Kontrollsysteme. Einzelne Funktionen können sogar von außerhalb des Autos angesteuert werden.
Es gibt zudem Fortschritte im Bereich des autonomen Fahrens und Antriebssysteme abseits des Verbrennermotors werden fortwährend erforscht oder sind bereits in Serie verfügbar.
Das Einzige, was hier fehlt, ist das Abheben vom Boden.


Doch in Gänze nicht existent ist auch das individuelle Fliegen nicht.
Mit dem Wingsuit ist der Mensch dem Traum vom Fliegen so nah wie noch nie. Zudem sind Kleinstflugzeuge zwar kostspielig, aber durchaus verfügbar und auch die kommerzielle Raumfahrt, wie wir sie aus “2001: A Space Odyssey” (1968) kennen, nimmt immer konkretere Formen an.


Parallel dazu haben sich Drohnen etabliert, mit denen wir, wenn auch remote, durch die Gegend fliegen können, und die Transportindustrie arbeitet daran, jene Drohnen für neue Vertriebswege zu nutzen.

Wenn also echte fliegende Autos Stand heute noch Fiktion sind, so haben Wissenschaft und Industrie wie einst bei Méliès der Fantasie dennoch ein gutes Stück Realität verpasst.

Im Sinne eines World Buildings und der Limitierungen, die ein einzelner Film erfordert, sehen wir allerdings immer nur Teile eines Gesamtbildes. Möglich also, dass es in “Blade Runner” oder dem “Fünften Element” irgendwo rein mechanische Fortbewegungsmittel gibt.


Da aber die reale Welt komplexer ist als ein Film, haben wir diesseits der Leinwand die Möglichkeit, uns simultan mehreren Aufgaben zu stellen.
Während also Automobilkonzerne den technologischen Fortschritt verfolgen, werden parallel Möglichkeiten ersonnen, ohne Verbrenner oder riesige Batterien individuelle Fortbewegung dennoch zu ermöglichen.
Dabei spielt natürlich das Thema Umweltschutz eine große Rolle. Gleichzeitig wird die Frage gestellt, ob es zwingend notwendig ist, ein großes Vehikel mit automatisiertem Antrieb für den wöchentlichen Einkauf zu verwenden, während der Gebrauch eines wesentlich kleineren Fahrzeugs mit mechanischen Antrieb und Muskelkraft (ggf. unterstützt durch einen kleinen Elektromotor) den gleichen Zweck erfüllen kann. 


Parallel zum technologischen Fortschritt geht in den Filmen meist eine Abkehr von der Natur und einem sozialen Miteinander einher.

Im bereits erwähnten “Metropolis” könnte die Schere zwischen Arm und Reich kaum größer sein und die Natur findet sich vor allem nur in sogenannten Lustgärten. Auch werden Flugzeuge zwar gezeigt, haben aber für die Handlung keine Bedeutung.
In “Blade Runner” und  “Das fünfte Element” ist alles derart durchtechnologisiert, dass nirgends ein Baum wächst und alles schmutzig wirkt.
In Frank Herberts “Dune” (Roman, 1965) gibt es übrigens keine künstliche Intelligenz, da es in der Historie einen Krieg gegen KI gegeben hat. Obwohl hochtechnologisiert, ist die Welt in “Dune” hier einen Schritt zurückgegangen.

In “Men in Black 2” (2002) können manche Autos im Hyper Speed fliegen. Um sie dann zu steuern, wird das reguläre Lenkrad ersetzt durch eine Playstation-Konsole. Damit zeigt uns der Film, dass fliegende Autos zwar schön, aber am Ende auch eine Spielerei sind.

Sci-Fi-Filme präsentieren somit immer Fantasien technologischen Fortschritts, diskutieren aber immer auch die Sinnhaftigkeit davon.


Dass wir es also im realen Leben zwar noch nicht zu fliegenden Autos, wohl aber zu Lastenfahrrädern gebracht haben, bedeutet, dass der Zweck nicht automatisch jedes Mittel heiligt.


Zukunftsnarrative loten Grenzen aus. Sie nehmen einen technologischen und oftmals auch soziokulturellen Ist-Zustand und denken diesen weiter.

In “Demolition Man” (1992) versinkt Los Angeles im Jahr 1996 im Chaos. Flächendeckend herrschen Schmutz und Gewalt.
Die neue Technologie des kryogenischen Strafvollzugs soll in besonders schwerwiegenden Fällen Abhilfe schaffen, da der konventionelle Strafvollzug keinen Erfolg mehr verspricht.

Weiter in der Zukunft, im Jahr 2032 präsentiert uns der Film eine vermeintliche Idylle, geprägt von Umweltschutz und Automobilen, die den real existierenden E-Autos verdächtig ähneln.

“Demolition Man” zeigt uns hier zwei Arten von Zukunft und verbindet sie auf satirische Weise.

Während der Zeit des sozialen Ungleichgewichts wird technologischer Fortschritt in neue Arten von Gefängnissen investiert und in ein Resozialisierungsprogramm, das von oben herab eine neue Denkweise verpasst.

Dann ein Zeitsprung und eine Welt voll von Super-Harmonie und einem Überfluss an Natur..
Alles (vermeintlich) friedlich und technologischer Fortschritt an jeder Straßenecke.


Die Gewalt von 1996 haben wir bislang zum Glück weitgehend ausgelassen, wenngleich es gerade in diesen Zeiten wieder vermehrt Konfliktpotential gibt.
Auch die Kryostase eines ganzen Menschen hat den Bereich der Forschung noch lange nicht hinter sich gelassen.

Den Vergleich einer Gehirnwäsche während des Kälteschlafs mit gegenwärtigen populistischen Kampagnen möchte ich nur mit Vorsicht ziehen, aber die einzelnen Details der ferneren Zukunft sind nahezu eins zu eins bereits heute Realität.
Automatisiertes Fahren und alternative Antriebsformen in den Fahrzeugen.
Telefonzellen, die einem Mut zusprechen, haben große Ähnlichkeit mit Chat-Bots.
Lasertechnik, die Graffitis entfernt, erinnert stark an die realen Möglichkeiten des Laserdrucks und in Sachen Augmented Reality stehen die tatsächlichen Möglichkeiten der Science-Fiction des Films in nichts nach.

Doch, ganz gleich, wie sich die Für und Wider der Technologien und der Gesellschaftsordnung in “Demolition Man” gegeneinander aufrechnen lassen. Davon völlig unbenommen gibt es ein Narrativ, welches sowohl in 1996 als auch in 2032 Anwendung findet.
Dort, wo Unterdrückung an der Tagesordnung ist, mangelt es an Sauberkeit und Natur.
Dies gilt gleichermaßen für die Gewaltexzesse von Phoenix und Spartan sowie für die Rebellen, die unter der Erde leben.


Zusammenfassend können wir sagen, dass technologischer Fortschritt nicht allein auf den Möglichkeiten von Mikrochips und Platinen beruht.

Um die Qualitäten einer Technologie, wie sie in Science-Fiction-Narrativen angepriesen werden, beurteilen zu können, müssen wir sie stets in ein größeres Ganzes einordnen.

Technik allein sagt nichts aus, es muss auch ein ganzheitlicher Zweck dahinter erkennbar sein, und so kann es sein, dass die Abkehr von einem Ziel zukunftsträchtiger sein kann, auch wenn dies bedeutet, dass der Fortschritt einen Dämpfer verpasst bekommt.


Wenn wir uns also die Frage stellen, wie die tatsächlichen Lastenfahrräder und die retrofuturistischen fliegenden Autos zueinander stehen, so können wir durchaus auf die Idee kommen, dass die Fiktion vielleicht technologisierter, die Realität dafür fortschrittlicher ist.



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